Das Hinterfragen, das Schreiben, das Leben der Traude Veran

Traude Veran hat in ihrem Leben viel gelernt, viel probiert und einiges erreicht. Sie ist für die Einführung der Integrationsschulklassen in Österreich verantwortlich und hat zahlreiche Bücher geschrieben. Heute lebt die 90-Jährige im Pensionisten-Wohnhaus Wieden.

Wie sich Traude Veran selbst beschreibt? „Anders.“ Traude Veran (90), ist nicht die gewöhnlichen Wege gegangen und schon gar nicht die leichten. Sie hat viel erreicht, auch wenn sie das selbst nicht ganz so sieht. Immer wieder musste sie gegen Widerstände ankämpfen. Das begann schon in der Kindheit. Da hat sie angefangen, anders zu denken, Dinge zu hinterfragen.

Da war zum Beispiel dieser Bub in ihrer Schulklasse. Er hatte Dysmelie, ihm fehlten die Arme. „Aber er war ein gescheiter Kerl“, sagt Traude Veran, die damals zwölf Jahre alt war. „Ich habe nicht verstanden, wieso man ihn einen Trottel genannt hat.“ Das Thema hat sie nicht mehr losgelassen.

Traude Veran – früher hieß sie Gertraud Schleichert – ist studierte Sozialarbeiterin und Sprachpsychologin. Sie war maßgeblich an der Einführung der ersten Integrationsschulklasse Österreichs in Oberwart beteiligt. Das war 1984. Die Versuchsklasse wurde trotz großer Widerstände ins Leben gerufen. Neun Jahre später wurden die Integrationsklassen Gesetz. Die Integration von Kindern mit Behinderungen in der Schule war ihr wichtigstes Projekt.

Goldenes Ehrenzeichen

Traude Veran wurde mit dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich ausgezeichnet. Das erfüllt sie durchaus mit Stolz: „Ich habe gedacht, vielleicht bekomme ich irgendeinen silbernen Dingsbums. Aber dass ich das Goldene Ehrenzeichen bekommen habe, hat mich sehr verblüfft.“

In ihrer Pension ging Traude Veran einer weiteren großen Leidenschaft nach: dem Schreiben. Zunächst schrieb sie in „Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam in Schulen“ über die Integrationsklassen. Dafür „verbarrikadierte“ sie sich in einem winzigen Ort in Tschechien. Zahlreiche weitere Bücher, vor allem Gedichtbände, sollten folgen. Aber auch über den Jüdischen Friedhof in der Rossau hat sie ein Buch geschrieben.

Der Weg zur Schriftstellerei war kein einfacher. „Die ersten Versuche, irgendwo hineinzukommen, sind fürchterlich ausgefallen“, erzählt Veran. Sie und ihr Schaffen wurden abgewertet, einmal entgegnete man ihr mit Sexismus. „Na, dann zieh di‘ hoit aus!“, bekam sie zu hören.

Schließlich gründete Traude Veran gemeinsam mit einer anderen Autorin einen eigenen Verlag: die Edition Doppelpunkt. Leider ging der Verlag irgendwann in Konkurs. „Wir bekamen viel Beifall für die tollen Bücher, die wir veröffentlicht haben. Aber gekauft hat sie halt niemand.“

Japanische Dichtkunst

Vom Schreiben hat sie das nicht abgehalten. Derzeit widmet sich Veran vor allem der japanischen Dichtkunst Haiku. Gemeinsam mit weiteren Autor*innen hat sie vor zwölf Jahren die „Österreichische Haiku-Gesellschaft“ gegründet, die jährlich die Zeitschrift „Lotosblüte“ herausbringt.

In ihrem Leben hat sich Traude Veran für viele Dinge interessiert. „Ich habe gerne in Sprachen hineingeschnuppert.“ Zwei Jahre lang studierte sie Chinesisch, zwei Jahre lang Japanisch. Auch das Fotografieren fand sie spannend. „Das habe ich ein paar Jahre lang gemacht. Dann ist wieder was anderes gekommen.“

Ihre vielseitigen Interessen, ihr Bildungshunger wurden Traude Veran nicht in die Wiege gelegt. Gegen den Willen ihrer Mutter ging sie aufs Gymnasium. „Sie stammte aus einer armen Arbeiterfamilie und war der Meinung, dass ich nicht nach den Sternen greifen solle.“

Das Verhältnis zu ihren Eltern war schwierig. Ihr Vater sei zwar nett gewesen und man habe mit ihm blödeln können. „Aber der Mann ist nie erwachsen geworden. Wenn er beleidigt war, war er beleidigt – und zwar lang.“

Fünftägige Flucht

Die ersten Jahre ihrer Kindheit hat Traude Veran in Wien verbracht. Dann kam der Krieg. Und die Flucht aufs Land. „Wir wussten nicht, welche Häuser bombardiert werden. Wir hatten keinen richtigen Luftschutzkeller. Dann wurden wir evakuiert. Das war schrecklich.“ Das letzte Kriegsjahr verbrachte die Familie in der Wachau. „Ich bin sieben Kilometer zu Fuß in die Schule gegangen. Aber das war toll.“

Gegen Ende des Krieges musste die Familie noch einmal fliehen. Zu Fuß, auf Lkw-Ladeflächen, in vollgestopften Zügen, vorbei an brennenden Häusern, von Wanzen befallen, kam die Familie nach fünf Tagen in St. Johann im Pongau an. „Es war ein Alptraum.“

Man wird komischer, wenn man älter wird.

Sieben Jahre nach dem Krieg ging Traude Veran zurück nach Wien. Zwanzig Jahre lang war sie verheiratet. „Mein Mann ist immer konservativer geworden und ich immer radikaler. Dann haben wir uns getrennt.“ Veran hat einen Sohn (64), eine Tochter (59) und eine Enkeltochter (28). Nach ihrer Ehe hatte sie noch einen Partner, der früh verstorben ist. „Danach hat es mir mit Partnerschaften gereicht. Man wird komischer, wenn man älter wird. Und die Männer werden auch komisch.“

Seit mehr als sechs Jahren wohnt Traude Veran im Haus Wieden. „Ich fühle mich wohl hier. Ich bin eher eine Einsiedlerin, aber es gibt ein paar Leute, mit denen ich mich gut verstehe.“ Davor lebte sie 18 Jahre lang – bis zum Umbau – im Haus Rossau. „Da waren wir ein fantastischer Haufen. Wir haben ununterbrochen irgendwelche Projekte verwirklicht.“

Lichtbildvorträge im Haus Wieden

Heute ist Traude Veran nicht mehr so gut zu Fuß, dafür ist sie fit am Computer. Sie checkt täglich ihre Mails. Im Haus Wieden macht sie Lichtbildvorträge und sie betreut gemeinsam mit einer anderen Bewohnerin die Literatur-Vitrine. Auch am Literatur-Contest der Häuser zum Leben und der Pensionist*innenklubs wirkt Traude Veran aktiv mit.

Künftig möchte sie leiser treten. „Ich will in Ruhe leben.“ Auf ihr bisheriges Leben kann sie zufrieden zurückblicken. „Es ist mir gelungen, zweimal in meinem Traumberuf zu arbeiten.“

Noch einmal jung sein möchte sie nicht. „Ich hätte Angst vor der Zukunft. Es passt so wie es ist.“

Steckbrief: Traude Veran

Geburtstag: 31. Jänner 1934
Früherer Name: Gertraud Schleichert
Wohnort: Haus Wieden, 1040 Wien
Frühere Wohnorte (u.a.): Wien, Wachau, St. Johann im Pongau, Tschechien, Deutschland, Burgenland
Familienstand: geschieden
Familie: eine Tochter, ein Sohn, eine Enkeltochter
Beruf: Sozialarbeiterin, Psychologin, Autorin
Worauf kommt’s an im Leben? “Immer wieder anzufangen, wenn man auf die Nase gefallen ist.”

Text: Birgit Riezinger

Links und Weiterführende Informationen:

Traude Veran auf Wikipedia
Zum 90. Geburtstag von Traude Veran
Österreichische Haiku-Gesellschaft
Wiedner Rosa für Traude Veran

Bisher erschienene Lebensg’schichten:
Teil 1: Herr Langer und die ewige Neugier
Teil 2: Frau Christler: „Ich wüsste nicht, worüber ich mich beklagen sollte
Teil 3: Frau Zichowsky: „Der liebe Gott wird schon auf mich schauen“
Teil 4: Frau Dratva: „Ich habe ein neues Leben bekommen, das ist ein Geschenk
Teil 5: Frau Wimmer: “Ich war ein richtiges Kriegskind”
Teil 6: Herr Raab: Der harte Abschied, das neue Glück

Service:
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