„Ich war ein richtiges Kriegskind“

Liselotte Wimmers Kindheit war bescheiden und geprägt vom Krieg. Im fünften Teil der Lebensg’schichten erzählt die 86-Jährige außerdem von ihrem Leben im Haus Am Mühlengrund, einer Scheidungs-Odyssee und ihrem Ein und Alles.

„Wir haben Glück gehabt.“ Das sagt Liselotte Wimmer oft, wenn sie über ihre Kindheit im Krieg und in der Nachkriegszeit erzählt. „Wir hätten auch im KZ landen können.“ Zahlreiche Bombenanschläge hat sie überstanden. Nach dem Krieg hat sie in der amerikanischen Besatzungszone gewohnt und nicht in der russischen. Ein Glück.

Fast 86 Jahre alt ist Liselotte Wimmer. Seit mehr als zehn Jahren wohnt sie im Haus Am Mühlengrund in Wien-Liesing. In ihrer Wohnung fühlt sie sich wohl. „Ich bin eine Stubenhockerin“, gibt sie zu. Bei den Freizeitangeboten im Haus macht sie aber gerne mit – egal ob beim Trommeln, beim Schwingkegeln oder bei Spielen. „Nur für Smovey bin ich zu faul.“

Dem KZ entkommen

Auch zu den Konzerten im Haus geht sie gerne. Früher hat sie mit ihrer Mutter beim Geschirrabwaschen Wienerlieder gesungen. Ihr Lieblings-Wienerlied? „Mei Muatterl war a Weanerin“. Frau Wimmers Mutter war Halbjüdin. „Irgendein Nazibonze hat die schützende Hand über uns gehalten“, erzählt sie. Und so ist die Familie dem Konzentrationslager entkommen. Ihre Mutter habe aber stets in Angst gelebt. Frau Wimmers Mutter starb früh, auch ihre sieben Jahre ältere Schwester, die nach Amerika ausgewandert ist, wurde nicht alt.

Weil ihr Vater Verwalter im Allgemeinen Krankenhaus in Wien war, ist Liselotte Wimmer in einer Dienstwohnung im Spitalsgelände aufgewachsen. „Es war traumhaft schön da – wie am Land. Es waren überall begrünte Höfe und wir hatten eigene Gärten.“ Sogar Tennisplätze und einen Eislaufplatz gab es.

Freilich, während des Kriegs war es nicht ganz so schön. „Fast täglich mussten wir zum Luftschutzkeller rennen.“ Der war am anderen Ende des Spitalsgeländes. „Einmal wurde das Nebenhaus bei einem Angriff getroffen, da hat es bei uns den ganzen Schutt hereingeschmissen. Wir haben geglaubt: Jetzt ersticken wir, jetzt sind wir tot.“ Die Familie überlebte. „Wir hatten wirklich viel Glück.“ Wenn Frau Wimmer heute eine Sirene heulen hört, sei das immer noch ein Trauma. „Das weckt sofort Erinnerungen. Das geht nicht weg.“

Es war eine harte Zeit. Wir haben sehr bescheiden gelebt.

Ein richtiges Kriegskind sei Frau Wimmer gewesen. Als sie acht Jahre alt war, war der Krieg endlich vorbei. Die Jahre danach waren auch nicht einfach. „Es war eine harte Zeit. Wir haben sehr bescheiden gelebt.“ Versorgt wurde die Familie auch von Frau Wimmers Tante, die auf ihrem Grundstück in Hütteldorf Tiere hielt und Gemüse anbaute. „Sie hat uns gerettet, dass wir nicht verhungert sind.“

In den frühen 1950er-Jahren musste Frau Wimmer mit ihrer Familie aus der Dienstwohnung im AKH raus. „Wir kamen in eine Gemeindewohnung im fünften Bezirk. Das war eine harte Umgewöhnung – zu dritt mit zwei Räumen.“

Dieses Bild zeigt Frau Wimmer in jungen Jahren mit ihrer Schwester.

Mit 16 Jahren begann Frau Wimmer im E-Werk zu arbeiten, wo sie elf Jahre lang als Buchhalterin tätig war. Im selben Alter lernte sie ihren späteren Ehemann kennen. „Die erste große Liebe – bis zum Gehtnichtmehr.“ 1958 wurde geheiratet, da war Frau Wimmer 20 Jahre alt. Ein paar Jahre später kamen die beiden Kinder – ein Sohn und eine Tochter. Frau Wimmer gab ihren Job auf. Diese Zeit sei die schönste Phase in ihrem Leben gewesen.

Die Ehe allerdings wurde mit der Zeit immer schwieriger. Nach 25 Jahren ließ sie sich scheiden. „Es wäre mein Wunschtraum gewesen, dass die Ehe hält. Aber es sollte nicht sein.“ Die Scheidung sei eine Odyssee gewesen. „Finanziell bin ich schlecht ausgestiegen.“

Jobsuche nach langer Pause

Danach suchte Frau Wimmer wieder einen Job. „Ich war 47, ich war weg vom Fenster.“ Knapp fünf Jahre lang arbeitete sie als Ordinationsgehilfin. Später unterstützte sie ihren Lebensgefährten, der Häuser vermietete, in administrativen Belangen. 13 Jahre lang war Frau Wimmer mit ihrem 17 Jahre älteren Partner liiert. „Er war ein sehr sonniger Typ und heiter. Er hat mich für vieles entschädigt.“ 1999 ist er gestorben. Seither lebt Frau Wimmer alleine.

Zu ihren Kindern hat sie ein sehr gutes Verhältnis. Ihre Tochter ist Lehrerin, der Sohn hat Chemie studiert und arbeitet im Landwirtschaftsministerium. „Ich bin stolz auf die beiden. Meine Tochter ist mein Ein und Alles, weil sie so viel für mich macht.“

An der Wand hängen Fotos ihrer Kinder und Enkelkinder.

Wenn Frau Wimmer noch einmal jung wäre, würde sie sich nicht mehr mit 16 an einen Mann binden und den Beruf aufgeben. „Das war richtig dumm von mir.“ Heute hadert sie ein bisschen mit ihrem Alter. „Gerade war ich erst 80, jetzt werde ich schon 86.“

Sich selbst beschreibt Frau Wimmer als gutmütig, nicht streitsüchtig, hilfsbereit, ein bisschen stur, manchmal chaotisch und sehr beredt. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu viel bequatscht“, sagt Frau Wimmer am Ende des Gesprächs. Hat sie nicht.

Steckbrief: Liselotte Wimmer

Geburtstag: 3. Dezember 1937
Wohnort: Haus Am Mühlengrund, 1230 Wien
Frühere Wohnorte: 1230, 1100, 1040 Wien, Perchtoldsdorf, 1050, 1090 Wien
Familienstand: geschieden
Familie: 2 Kinder, 2 Enkelkinder
Interessen: Trommeln, Quizsendungen schauen
Beruf: Buchhalterin, Ordinationsgehilfin
Worauf kommt’s an im Leben? „Dass es meinen Kindern gut geht. Wenn es meinen Kindern gut geht, geht es mir auch gut.“

Text: Birgit Riezinger
Fotos: Christian Fischer

Bisher erschienene Lebensg’schichten:
Teil 1: Herr Langer und die ewige Neugier
Teil 2: Frau Christler: „Ich wüsste nicht, worüber ich mich beklagen sollte“
Teil 3: Frau Zichowsky: „Der liebe Gott wird schon auf mich schauen“
Teil 4: Frau Dratva: „Ich habe ein neues Leben bekommen, das ist ein Geschenk“

Service:
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