Christine Dratva, 78-jährige Bewohnerin im Haus Rosenberg, in Nahaufnahme

„Ich habe ein neues Leben bekommen, das ist ein Geschenk“

Ein Herzinfarkt hat das Leben von Christine Dratva (78) auf den Kopf gestellt. Ihr neues Leben im Haus Rosenberg genießt sie in vollen Zügen. Sie liebt das Malen, die Musik und die Menschen. Ein Porträt.

„Es war ein hartes Jahr“, sagt Christine Dratva. Vergangenes Jahr erlitt die 78-Jährige einen Herzinfarkt. Der Weg zurück war steinig. Zwei Monate lang lag sie auf der Intensivstation. Danach musste sie Vieles neu lernen: sprechen, schreiben, essen. Neun Monate hat es gedauert, bis Frau Dratva wieder einigermaßen gut beisammen war.

Ganz die Alte ist sie noch nicht. „Ich habe noch immer mit der Luft zu kämpfen.“ Mit ihrer Energie muss sie haushalten. Und sie ist noch auf einen Rollator angewiesen. Den will sie unbedingt wegbekommen. Daran arbeitet sie mit einer Physiotherapeutin.

Vor einem Jahr ist Christine Dratva ins Pensionisten-Wohnhaus Rosenberg eingezogen. „Das war keine Entscheidung, das war eine Notwendigkeit.“ In ihrer Wohnung in Floridsdorf hätte Frau Dratva nicht bleiben können. Der Aufzug war im Halbstock, das Badezimmer klein und mit Badewanne.

Jetzt hat sie ein großes barrierefreies Badezimmer mit Dusche, eine helle Wohnung, einen riesigen Park und Betreuung, wenn sie eine braucht. Die Tochter hat das Haus Rosenberg für ihre Mutter ausgewählt. Und die ist rundum zufrieden. „Ich habe so ein Glück, dass ich auf den richtigen Fleck gekommen bin“, sagt Frau Dratva.

Eine ältere Frau mit Pagenkopf und Brille blättert an einem Tischkalender.
Christine Dratvas Terminkalender ist voll. Sie nimmt an diversen Freizeitangeboten im Haus teil.

„Diese Ruhe hier ist unbezahlbar.“ Jeden Tag in der Früh geht sie eine Stunde im Park. „Auch bei Schlechtwetter.“ Bei zahlreichen Aktivitäten im Haus macht sie mit. Die Singrunde hat sie sogar selbst gegründet. Auf andere Bewohner*innen geht sie gerne zu.

„Ich finde es spannend, wie viele verschiedene Menschen hier sind. Das wird nie langweilig.“ Und jeder habe so seine eigenen Stärken und Fähigkeiten. Der eine in der Literatur, der andere in der Botanik. Frau Dratva selbst ist eine ausgezeichnete Malerin.

Kellergassen, Fiaker, Ziegen

In einer Mappe sind jede Menge ihrer Aquarellbilder einsortiert: Natur, Kellergassen, Fiaker, Ziegen in Griechenland, ein Mönch, alte Frauen. „Alles mal ich.“ Gelernt hat sie das erst im etwas höheren Alter – auf der Kunst Volkshochschule. Beim Malen geht es ihr darum, eine schöne Zeit zu haben. „Nicht jedes Bild wird was“, sagt sie. „Aber hie und da ist ein Sternstundenbild dabei.“

Frau Dratvas zweite große Leidenschaft ist die Musik. Mit über 50 ist sie noch einmal auf das Schubert Konservatorium gegangen, nachdem sie ihr Studium in jungen Jahren abbrechen musste. Vier Jahre lang spielte sie dann mit ihrer Geige im Orchester der Marchfelder Philharmonie. Von den Konzerten, sagt sie, zehrt sie heute noch. „Wenn man im Klangkörper drinnen ist – das kann man gar nicht in Worten beschreiben, wie glücklich einen das macht.“

Yehudi Menuhin getroffen

Yehudi Menuhin, einer der bedeutendsten Violinisten des 20. Jahrhunderts, war ihre große Inspiration. „Er hat so gespielt, wie ich gerne hätte spielen können.“ Einmal hat sie ihn in München getroffen, ein Erinnerungsfoto zeugt davon.

Ein Foto zeigt den Geiger Yehudi Menuhin mit einer jungen Frau.
Von Yehudi Menuhin hat Christine Dratva nicht nur ein Erinnerungsfoto, sondern auch einen persönlichen Brief und ein Buch bekommen.

Aufgewachsen ist Frau Dratva in den Nachkriegsjahren in Nürnberg. Ihr Vater war Deutscher, ihre Mutter Wienerin. Nachdem ihr Vater aus dem Krieg zurückgekommen war, lebte Christine mit ihren Eltern und ihren beiden Geschwistern zunächst in einem kleinen Bunker ohne Fenster.

Draufgängerisches Kind

„Ich bin sehr arm aufgewachsen, das vergesse ich nie.“ Trotzdem habe sie eine schöne Kindheit gehabt. „Weil ich es mir schön gemacht habe.“ Ein draufgängerisches Kind sei sie gewesen. „Ich bin auf jede Mauer gestiegen und mit dem Puppenwagen die Böschung runtergefahren.“

Im Alter von 15 Jahren kam Christine Dratva nach Österreich, wo sie die Pädagogische Hochschule im Sacré Coeur in Pressbaum absolviert hat. „Dann habe ich am Konservatorium in Wien zu studieren begonnen, aber dann habe ich mich verliebt, geheiratet und zwei Mädchen bekommen.“ Da haben sich die Prioritäten verschoben.

Ich weiß, was Armut bedeutet, ich weiß aber auch, was Glück bedeutet.

„Bis meine Kinder in die Schule gekommen sind, habe ich Wasser und Klo am Gang gehabt, die Windeln habe ich im Topf ausgewaschen.“ Trotzdem sei diese Zeit eine schöne gewesen. „Ich weiß, was Armut bedeutet, ich weiß aber auch, was Glück bedeutet.“

Glückllich war Frau Dratva auch in ihrem Beruf. Mehr als 40 Jahre lang hat sie Kinder betreut: von den Säuglingen im Preyer’schen Kinderspital bis zu Hort- und Schulkindern. Das sei nicht immer einfach gewesen. „Aber ich habe in meinem Beruf sehr viel an Erfahrung und an Wertigkeiten mitgenommen.“

Griechenland-Liebe

18 Jahre lang war Frau Dratva mit dem Vater ihrer Kinder verheiratet, dann passte es nicht mehr. Später hatte sie noch einen Lebensgefährten, mit dem sie ebenfalls 18 Jahre liiert war. „Die Trennung ist mir schwergefallen, aber es musste sein.“ Manchmal müsse man einfach loslassen, sagt sie. Auch ihre ältere Tochter musste sie loslassen.

Sie lebt in Griechenland, im Moment sehen sich die beiden selten. Ihre zweite Tochter war ebenfalls mit einem Griechen verheiratet, ehe sie zurück nach Österreich gekommen ist. „Sie ist mein Engel“, sagt Frau Dratva. „Sie ist so liebevoll und empathisch und sie schaut, dass es mir gut geht.“

Griechenland ist so etwas wie Frau Dratvas zweite Heimat. „Ich war auch in Rio oder in China, aber Griechenland hat mir immer so eine Luft zum Atmen und das Freisein vermittelt.“ In der Pension wollte sie eigentlich nach Kreta ziehen. Nach einem halben Jahr Probe-Aufenthalt änderte sie ihre Meinung. „Wenn man dort lebt, schaut es ganz anders aus. Es nicht alles Honigkuchen.“

Eine ältere Frau mit grauen Haaren, Pagenkopf und Brille hält das Buch mit dem Titel "Die Postkarte" in der Hand.
Frau Dratva liest auch gerne, derzeit liest sie das Buch „Die Postkarte“ von Anne Berest über ein jüdisches Schicksal.

Das Schicksal habe Regie geführt, dass sie den Herzinfarkt erlitten hat und jetzt im Haus Rosenberg lebt. Frau Dratva hadert nicht damit. Sie lebt im Hier und Jetzt. Noch einmal jung sein möchte sie nicht. Täglich lernt sie dazu – viel über sich selbst. „So genau kenne ich mich noch nicht – aber das ist ja spannend.“ Manchmal verhält sie sich wie ein Kind, sagt sie. „Ich wundere mich, wie kindisch ich sein kann. Aber ich kann nicht anders.“

Das Nahtod-Erlebnis hat ihre Sichtweise auf gewisse Dinge geändert. „Ich habe ein neues Leben bekommen. Das ist ein Geschenk.“ Ewig leben möchte sie aber nicht. Diese Vorstellung sei eigentlich „grauslig. Wenn es einmal zu Ende ist, ist es auch gut, weil man loslassen und Ballast abwerfen kann.“

Steckbrief: Christine Dratva

Geburtstag: 6. September 1945
Wohnort: Haus Rosenberg, 1130 Wien
Frühere Wohnorte: Nürnberg, 1210 Wien
Familienstand: geschieden
Familie: 2 Töchter (58 und 57 Jahre alt)
Interessen: Malen, Musik, Lesen
Lieblingsmusik: klassische Musik (Bach, Haydn, Vivaldi)
Beruf: Kinderbetreuerin
Worauf kommt’s an im Leben? „Das Leben zu genießen, weil wir nur eines haben.“

Text: Birgit Riezinger
Fotos: Sarah Bruckner

Links:
Teil 1 der Serie: Herr Langer und die ewige Neugier
Teil 2 der Serie: Frau Christler: „Ich wüsste nicht, worüber ich mich beklagen sollte“
Teil 3 der Serie: Frau Zichowsky: „Der liebe Gott wird schon auf mich schauen“

Alle Lebensg’schichten und Videoserie „100 Jahre Leben“