„Mitten im Leben der Menschen“
Bei den Häusern zum Leben erhalten Menschen mit Demenz in der „Tag.Familie“ einen strukturierten Tagesablauf. Aber wie sieht so ein Tag eigentlich aus? Ein Besuch im Haus Prater:
„Guten Morgen. Ausgeschlafen?“, fragt eine Mitarbeiterin. „Natürlich“, antwortet Frau Steiner*. Es ist Montag, kurz nach acht Uhr morgens. Die Tag.Familie 1 im Haus Prater hat seit einer halben Stunde ihre Türen geöffnet. Die Tag.Familie ist eine Tagesbetreuung für Bewohner*innen mit demenziellen Erkrankungen, die sich noch gut orientieren können. In allen Häusern zum Leben gibt es zumindest eine Tag.Familie. Die Besucher*innen wohnen in eigenen Apartments im Pensionisten-Wohnhaus. Manche von ihnen benötigen Unterstützung bei der Körperpflege oder beim Anziehen.
Die Tag.Familie 1 im Haus Prater befindet sich in einem hellen Raum im Erdgeschoß. An der Wand hängen Fotos der elf Tag.Familien-Bewohner*innen – liebevoll auf Papierherzen aufgeklebt, auf denen die Geburtstage vermerkt sind. Zwischen 76 und 94 Jahre sind sie alt. Auch die Fotos der Mitarbeiter*innen sind an die Wand angepinnt. An diesem Montag leitet Fach-Sozialbetreuer Simon Jaindl die Tag.Familie. Heimhilfe Magda Majdecka unterstützt ihn.
Individuelle Betreuung
Die Mitarbeiter*innen gehen auf alle Bewohner*innen individuell ein. „Bei einer Bewohnerin ist es wichtig, dass sie immer ihre blaue Tasche dabeihat“, sagt Simon. „Eine andere Bewohnerin reagiert meist mit Ablehnung – das erfordert besondere Zuwendung.“
In der Tag.Familie nehmen die Bewohner*innen alle Mahlzeiten ein: Frühstück, Mittagessen, Kaffeejause und Abendessen. Die meisten kommen eigenständig, manche werden angerufen oder abgeholt. Manche Bewohner*innen bleiben den ganzen Tag – bis 18 Uhr – in der Tag.Familie, manche gehen zwischendurch in ihre Wohnungen.
Nach dem Frühstück setzt sich Frau Sturm auf den Fauteuil in der Ecke und döst vor sich hin. Frau Hofbauer liest einen Krimi von Donna Leon. Magda Majdecka geht derweil mit ein paar Bewohner*innen eine Runde im Garten. Magda hat früher als Reinigungskraft im Haus Gustav Klimt gearbeitet. Da hat sie begonnen, sich für die Altenarbeit zu interessieren. „Ich habe immer geschaut, was die Pflege- und Betreuungskräfte machen.“ Dann hat sie eine Ausbildung zur Heimhilfe absolviert. Seit einem Jahr arbeitet sie nun in der Tag.Familie. Der Job macht ihr Spaß. „Es ist so, wie ich es mir vorgestellt habe.“
Zwei Aktivierungen pro Tag
10 Uhr: Zeit für die erste von zwei täglichen Aktivierungen. Aktivierungen sind verschiedene Tätigkeiten und Aufgaben, etwa Bewegung, kreatives Gestalten oder Singen. Mittels derer werden Sinne angeregt, Erinnerungen geweckt und Ressourcen gefördert bzw. erhalten. Im Haus Prater folgen die Aktivierungen immer einem Wochenthema – diesmal ist es Film und Fernsehen.
„Die Bewohner*innen werden eingeladen, an den Aktivierungen teilzunehmen“, sagt Simon. „Aber verpflichtet wird niemand.“ An diesem Montagvormittag steht Gedächtnistraining auf dem Programm. Die Bewohner*innen setzen sich in einen Halbkreis. Simon begrüßt jede Person einzeln: „Schön, dass Sie da sind Frau Obermaier!“ „Ich freue mich, dass Sie mitmachen, Herr Novak!“ Simon stellt den Bewohner*innen ein paar Fragen zum Thema: „Was verbinden Sie mit Kino?“ „Sind Sie gerne ins Kino gegangen?“ „Welche Filme haben Sie gern geschaut?“
Ah, der Hans Moser!
Herr Schaub erzählt, dass er sich als Jugendlicher in Kinofilme geschlichen hat, für die er eigentlich zu jung war. Dann beginnt Simon, Ausschnitte aus alten Filmen zu zeigen. Nach jedem Trailer gibt er Fotos der mitspielenden Schauspieler durch die Runde. „Ah, der Hans Moser!“ Die Ausschnitte werden kurz besprochen. Simon bindet alle in Aktivierung ein. Beim Ausschnitt von „Mariandl“ beginnt eine Frau spontan mitzusingen.
Die Bewohner*innen der Tag.Familien haben demenzielle Erkrankungen sowie diverse krankheitsbedingte Symptome. Daher besteht ein erhöhter Bedarf an Tages- und Beschäftigungsstruktur durch spezifische Betreuung von speziell geschultem Personal.
Vom Friseur zum Fach-Sozialbetreuer
„Wir wollen die Selbstständigkeit der Bewohner*innen erhalten“, sagt Simon. „Unsere Aufgabe ist es, auf deren Wohlbefinden zu schauen.“ Simon macht der Job Spaß. Nach 30 Jahren als Friseur hat er sich entschieden, die Ausbildung zum Fach-Sozialbetreuer zu machen. Seit einem Jahr ist er nun in der Tag.Familie im Haus Prater.
Sein Job beinhaltet nicht nur die Betreuung, auch gewisse Pflegetätigkeiten und Dokumentation hat er zu erledigen. Natürlich ist nicht immer alles lustig. Aber Simon sieht das Glas halbvoll. „Ich habe jeden Tag, die Chance mich selbst zu reflektieren. Man ist mitten im Leben der Menschen.“
Nach einer Stunde ist die Aktivierung vorbei. Simon bedankt sich bei allen Bewohner*innen für die Teilnahme.
Ab 11.30 Uhr wird zu Mittag gegessen. Heute gibt es Bohnengulasch, Putenknacker oder Pangasiusfilet. Nach einer halben Stunde haben die meisten fertig gegessen. „Mir hat es geschmeckt“, sagt Frau Obermaier. „Ich will nicht raunzen.“ Danach verabschieden sich die Bewohner*innen in ihre Wohnungen. Mittagspause in der Tag.Familie.
Ich brauche keine Texte, ich kenne die Lieder alle.
Nach der Kaffeezeit gibt es um 15 Uhr die nächste Aktivierung. Diesmal treffen sich beide Tag.Familien im Garten. Es wird gesungen. Und gemäß dem Wochenthema geht es um Filmmusik. Hits von Peter Alexander, Peter Kraus oder Bill Ramsey werden gespielt. Frau Weber stößt dazu: „Ich brauche keine Texte, ich kenne die Lieder alle.“ Beim „Weißen Rössl“ wird besonders laut und beschwingt mitgesungen.
Kurz nach dem Abendessen, um 18 Uhr, schließt die Tag.Familie ihre Türen. „Es war ein unkomplizierter Tag“, sagt Simon. Seine berufliche Veränderung bereut er nicht. Er mag seinen Job, er mag die Menschen. Im Fortschreiten ihrer Demenz will er sie größtmöglich unterstützen. „Für mich ist es wichtig, dass sie eine gute Zeit verbringen.“
*Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden alle Namen der Bewohner*innen für diesen Text geändert.
Demenz
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