„Ich wüsste nicht, worüber ich mich beklagen sollte“
Im zweiten Teil unserer Lebensg’schichten erzählt Maria Christler (84), Bewohnerin im Haus Maria Jacobi, von ihrem geliebten Mann, ihrer kindlichen Angst vor den Russen und einem Hobby, bei dem sie sehr viel Geduld beweist.
Maria Christlers Wohnung ist üppig dekoriert. Mit Stofftieren, Kissen und zahlreichen Bildern an der Wand. Zwischen Fauteuil und Vitrine fällt ein Tischchen auf. Es ist geschmückt mit Tischtuch, Blumen, LED-Kerzen – und einem Foto ihres verstorbenen Mannes. Eine Art Erinnerungsstätte. „Das brauche ich“, sagt Frau Christler. „Er fehlt mir schon.“
Seit mehr als vier Jahren lebt Maria Christler im Haus Maria Jacobi im dritten Wiener Gemeindebezirk. Davor hat sie mit ihrem Mann im Haus Döbling gewohnt. Er starb vor neun Jahren. Es sei alles ziemlich schnell gegangen, sagt Frau Christler. Nach einer Untersuchung musste er umgehend ins Spital. Bei einem Besuch hat er ihr dann ganze viele Dinge gesagt, die sie erledigen solle: „Geld abheben, mich beim Arzt bedanken, den Hund vorbeibringen.“
Frau Christler hat sich nichts dabei gedacht. Am nächsten Tag stand ihr Sohn vor der Tür. „Wie ich sein Gesicht gesehen habe, habe ich alles gewusst.“ Frau Christler war froh, dass ihr Mann nicht mehr leiden musste. „Wir haben so ein schönes Leben gehabt“, sagt sie. „Gestritten haben wir nie.“
54 Jahre Ehe
54 Jahre lang war sie mit ihrem Bartholomäus, einem gebürtigen Kärntner, verheiratet. Kennengelernt hat sie ihn auf einem Maskenball in Irnfritz im Waldviertel. Dort ist Frau Christler aufgewachsen. Ihr Mann war damals mit dem Bundesheer in Horn stationiert. „Er hat mich zum Tanzen geholt. Da war es um mich geschehen.“
Danach hat er sie regelmäßig in Wien besucht. Einmal war sie nicht zu Hause. „Da hat er geglaubt, dass ich mit einem anderen Mann unterwegs gewesen wäre. Aber das war ich nicht!“ Trotzdem kam er sie dann nicht mehr besuchen. „Ich habe Rotz und Wasser geheult“, sagt sie. Nach einer Weile schrieb sie ihm einen Brief. „Bartl“ antwortete und bat Maria, ihm ein Untermiet-Zimmer in Wien zu besorgen, weil er in die Stadt ziehen wollte. Frau Christler besorgte ihm ein Zimmer. Nach zwei Jahren Pause waren die beiden wieder ein Paar. Bald darauf wurde geheiratet.
Sorge um Sohn
Mit ihrem einzigen Sohn hat Frau Christler bis heute ein sehr enges Verhältnis. Nach einem schweren Autounfall vor 30 Jahren war er sechs Wochen lang im Tiefschlaf. „Das war eine schlimme Zeit. Wir haben nicht gewusst, ob er noch einmal aufsteht und ob er es überhaupt überlebt.“ Heute geht es ihm einigermaßen gut. Die beiden Kinder ihres Sohnes und dessen geschiedener Frau pflegen keinen Kontakt mit ihrer Oma. Frau Christler weiß nicht einmal, ob sie Urenkel hat. „Es nutzt nichts, wenn ich hinten nach schimpfe“, sagt sie. „Ich bin froh, dass ich mein Kind habe.“
Frau Christler ist am Land aufgewachsen. Ihre Kindheit beschreibt sie als „eigentlich schön. Wir haben nicht alles gehabt, aber wir waren zufrieden.“ Ihre Mutter sei ein liebenswerter, friedlicher Mensch gewesen. „Der Vater hat immer ein bisschen gesponnen.“ An den Krieg hat Frau Christler, die 1939 geboren wurde, kaum Erinnerungen.
Ich habe mich so gefürchtet vor den Russen.
„Ich weiß nur: Am Truppenübungsplatz in Allentsteig waren die Russen daheim. Die haben wir oft vorbeifahren gesehen.“ Die Rote Armee hatte den Übungsplatz der deutschen Wehrmacht gegen Ende des Krieges eingenommen. „Ich habe mich so gefürchtet vor den Russen“, sagt sie. „Bei uns haben sie einmal eingebrochen und meine Mutter haben sie geschlagen. Den Kindern haben sie eh nichts getan, aber ich hatte halt Angst.“
Ihren Vater lernte Frau Christler erst im Alter von sieben Jahren kennen. Er war 1941 in den Krieg gezogen. Fünf Jahre später kam er nach Hause. „Eines Tages bin ich heimgekommen und da steht ein fremder Mann.“ Das sei eigenartig gewesen.
Zur Schule ist Frau Christler gerne gegangen, sie war eine gute Schülerin. „Die Bauernbuben haben oft die Aufgaben von mir abgeschrieben.“ Sie ging bis sie 14 war in die Volksschule, die damals noch acht Schulstufen hatte. Gerne wäre sie stattdessen in die Hauptschule in Horn gegangen, aber ihr Vater ließ sie nicht. Sie hätte mit dem Zug fahren müssen. „Er hat gesagt, dass ich in der Bahn verderbe. Alle sind mit dem Zug gefahren und keiner ist verdorben. Aber man musste die Bahn zahlen, die Hefte, die Bücher. Ich glaube, da war meinem Vater leid ums Geld. Das habe ich ihm mein Leben lang nicht verziehen.“
Mit 14 allein nach Wien
Im Alter von 14 Jahren kam Maria Christler nach Wien. „Mein Vater hat gesagt, dass ich fort muss, wenn ich aus der Schule bin.“ Sie wohnte in einem Kloster und machte bei der Caritas die Hauptschule nach. Sie lernte Drogistin und war zunächst bei einer Apotheke im 18. Bezirk beschäftigt. „Aber da war die Chefin so blöd.“ Sie musste zu ihr Frau Doktor sagen, obwohl sie nur eine Hutmacherin gewesen sei. „Nichts gegen Hutmacher, aber das hat mich gestört.“ Später wechselte sie in eine andere Apotheke. „Dort war ich 22 Jahre lang glücklich – bis zur Pension.“
Fad ist ihr in der Pension nicht. Frau Christler zeigt auf einen Kasten in ihrer Wohnung. „Da ist nur Bastelzeug drin.“ Die 84-Jährige bastelt Grußkarten, stickt Bilder und Decken. „Das ist mein Hobby. Ich brauche immer etwas zu tun.“ Stundenlang beklebt sie Bilder mit kleinen Steinchen. „Dafür braucht man schon ein bisserl Zeit. Aber ich habe Geduld. Das ist wie eine Sucht!“
Auch bei diversen Aktivitäten und Veranstaltungen im Haus Maria Jacobi ist Frau Christler dabei – etwa beim Singen oder beim Gedächtnistraining. „Ich mache überall mit!“, sagt sie. Im Haus fühlt sie sich wohl. „Die Schwestern sind nett. Meine Tischnachbarin ist nett. Ich habe mit Niemandem ein Problem.“
Zufriedenheit ist für Frau Christler das Wichtigste im Leben. „Ich wüsste nicht, worüber ich mich beklagen sollte.“
Steckbrief: Maria Christler
Geburtstag: 21. April 1939
Wohnort: Haus Maria Jacobi, 1030 Wien (seit 2018)
Frühere Wohnorte: Waldviertel, 1030, 1180, 1190 Wien
Familienstand: verwitwet (54 Jahre mit Bartholomäus verheiratet)
Familie: 1 Sohn, 2 Enkelkinder
Beruf: Drogistin
Interessen: Basteln, Handarbeiten, Singen
Worauf kommt’s an im Leben? „Zufriedenheit“
Text: Birgit Riezinger
Fotos: Sarah Bruckner