„Wir schreiben den Menschen nicht vor, was sie essen dürfen“
Der BewohnerInnen-Wunsch steht beim Essen in den Häusern zum Leben an erster Stelle. Worauf bei der Ernährung in der Altenbetreuung sonst noch geachtet wird, erklärt Susanne Bayer, Diätologin bei den Häusern zum Leben, im Interview.
Warum nimmt das Essen in der Altenbetreuung einen immer wichtigeren Stellenwert ein?
Bayer: Für uns alle ist das Essen unglaublich wichtig. Es ist unsere Lebensgrundlage, es ist aber auch etwas, das uns unglaublich viel an Genuss und Lebensqualität bietet und uns laufend Gesprächsthemen liefert.
Warum muss für ältere Menschen anders gekocht werden als für jüngere Menschen?
Bayer: Es muss gar nicht anders gekocht werden. Die Essensempfehlungen sind für Ältere kaum anders als für jüngere Menschen. Ältere haben einen etwas geringeren Energiebedarf, weil sie sich meist weniger bewegen. Es wird etwas mehr Eiweiß empfohlen, weil sie oft zu wenig eiweißhaltige Lebensmittel wie Milchprodukte oder Fleisch essen. Der große Unterschied ist, dass ältere Menschen häufig Krankheiten, Mobilitätseinschränkungen und kognitive Einschränkungen haben. Das heißt, der Bedarf aber auch die Bedürfnisse verändern sich ganz individuell.
Was sind häufige Erkrankungen bei älteren Menschen und worauf muss dann bei der Ernährung geachtet werden?
Bayer: Eine häufige Erkrankung im Alter ist Diabetes. Die Ernährungsempfehlungen bei Diabetes entsprechen heute jenen einer normalen, gesunden Mischkost. Eine weitere Erkrankung ist der Schlaganfall. Hier kann es zu Schluckstörungen und zu Mobilitätseinschränkungen kommen. Auch Nierenerkrankungen kommen oft vor. Ebenso wie jüngere haben auch ältere Personen gelegentlich Lebensmittelunverträglichkeiten.
Da muss man schauen, ob man etwas reduzieren oder ganz weglassen muss. Und natürlich sind demenzielle Erkrankungen im Alter ein großes Thema. Da gibt es aber keine spezielle Diät. Eine Mangelernährung ist ein häufiges Problem im Alter aufgrund der vielen Krankheiten. Medikamente sowie „normale“ Altersveränderungen wie Seh- oder Hörverlust und das Nachlassen des Geschmackssinnes verstärken das Risiko einer Mangelernährung.
Geht es bei Menschen mit demenziellen Erkrankungen auch darum, sie ans Essen zu erinnern bzw. kommt es auch vor, dass sie vergessen, dass sie bereits gegessen haben?
Bayer: Beides kommt vor. Das ist auch davon abhängig, in welchem Stadium der Demenz eine Person ist. Wenn die Menschen auf’s Essen vergessen, aber sonst noch mobil sind, versuchen sie oft, mehrere Mahlzeiten zu essen, was zu Übergewicht führen kann. Dann soll man ihnen nicht dreimal ein Schnitzel mit Beilage geben, sondern etwa Kompott oder Obst anbieten. Größere Sorgen machen wir uns aber bei Menschen, die zu wenig essen: also Leute, die Essen ablehnen, verweigern oder einfach darauf vergessen.
Im PensionistInnen-Wohnhaus kann nicht für jede Person extra gekocht werden. Inwieweit ist es trotzdem möglich, auf individuelle Bedürfnisse von BewohnerInnen einzugehen?
Bayer: Hier ist die Zusammenarbeit von Küche, Pflege, Betreuung und DiätologInnen unglaublich wichtig. In den Häusern zum Leben setzen wir – vor allem in den Tag.Familien und den stationären Bereichen – großteils auf das „Schöpfsystem“. Dabei werden Suppe, Hauptspeise und Nachspeise nicht fertig auf dem Tablett serviert. Sondern das Essen kommt in großen Schüsseln aus der Küche. Die BewohnerInnen können sich dann ihr Essen aus allem, was an diesem Tag angeboten wird, zusammenstellen. Damit kann man schon viele Bedürfnisse abdecken.
Wenn der Bewohner Fisch mit Sauerkraut will, dann kriegt er Fisch mit Sauerkraut.
Susanne Bayer | Diätologin
Wie ist generell der Speiseplan in den Häusern zum Leben aufgebaut?
Bayer: Wir haben detaillierte Vorgaben, damit der Speiseplan ausgewogen ist. Es muss immer Gemüse oder Salat dabei sein. Bei süßen Hauptspeisen muss es eine Gemüsesuppe geben. Beim Ausspeisen zählt dann aber der Wunsch des Bewohners. Wenn der sagt, er hätte gern den Fisch mit Sauerkraut, dann kriegt er den Fisch mit Sauerkraut. Ob das aus unserer Sicht zusammenpasst oder nicht, spielt keine Rolle. Außer wir wissen, dass ihm etwas schadet – dann versucht wir beratend einzugreifen.
Das heißt, es geht vorrangig darum, was die BewohnerInnen essen wollen?
Bayer: Der BewohnerInnen-Wunsch ist bei uns ganz klar vorrangig. Wir schreiben den Menschen nicht vor, was sie essen dürfen. Auch demente BewohnerInnen sind selbstbestimmt. Wir empfehlen, wir raten, wir bieten an. Aber die Entscheidung liegt bei den BewohnerInnen.
Welche Tricks gibt es, um SeniorInnen zum Essen und Trinken zu motivieren?
Bayer: Es gibt verschiedene Dinge, auf die man achten sollte. Ein großes Thema sind Rituale: zum Beispiel gemeinsam aufdecken, den Tisch dekorieren, das Essen mit einem gemeinsamen Spruch oder einem Lied beginnen. Eine Klingel oder ein Glöckchen wird gerne mit dem Start der Mahlzeit verknüpft. Wenn dieses Ritual immer wieder eingesetzt wird, wird im Körper unbewusst sofort auf die kommende Nahrungszufuhr umgestellt. Damit steigt auch der Appetit und die Verdauung verbessert sich. Die MitarbeiterInnen können außerdem erklären, was es zu essen gibt und Gusto machen. Während der Mahlzeiten sollten keine Besuche kommen oder nicht zwingend notwendige Pflegehandlungen durchgeführt werden.
Zur Person
Susanne Bayer ist seit mehr als 20 Jahren als Diätologin bei den Häusern zum Leben tätig. Ausführlich widmet sie sich Ernährungsempfehlungen im Pflege- und Betreuungsalltag für zahlreiche unterschiedliche Religionsgemeinschaften. Im März 2023 wird ihr Buch „Ernährung in der Altenbetreuung – Esskultur, Biographie und Religion im Verpflegungsalltag“ erscheinen.